September 2019

Joan Holender hat in einem Interview zur Wahrnehmung von Theater eine Bemerkung gemacht, die es wert ist, festgehalten zu werden: „Ich habe nie Theater für die gemacht, die vergleichen wollen. Wenn man ein Stück kennt und es in einer anderen Produktion sieht, hört man Bekanntes und sieht Neues. Das, was man gern hat, erkennt man nicht wieder - und ist einigermaßen derangiert. … Mir ging es immer um die, die das erste Mal kommen. Die muss man packen. Und dafür darf man fast alles außer langweilen.“ Das ist natürlich eine Kampfansage gegen die Gewohnheit, gegen verinnerlichtes Konsumentenverhalten, auch gegen die Überschätzung und Versklavung durch den Wiedererkennungswerts. Zugleich ist es eine Befreiung von der Albernheit, dass früher alles besser war. Immer war es natürlich anders. Bedeutsamer als die Kampfansage an Verkrustungen ist freilich das darin auch enthaltene Plädoyer für das Interesse an Neuem, Ungewohntem und Unbekanntem. Nicht wenige Inszenierungen wurden von einem (meist überwiegend) konservativen Publikum bei der Premiere und von Kritikern verrissen – und bekamen später Kultstatus. Man denke etwa an die eine oder andere Wagneropernpremiere. Ein jeder Engel ist schrecklich, heißt es in Rilkes erster Duineser Elegie. Eine Inszenierung kann gut oder schlecht sein. Was gilt – auch als Vielfalt gelten darf -, erweist sich erst im Ausloten des Andersseins. Und gerade da kann das Spiegeln, Rekonstruieren und Dekonstruieren zum Ereignis, zur Überraschung werden, zu etwas Neuem führen, während der platte Vergleich und das Entscheiden für die eine oder die andere Möglichkeit glatte Informationsvernichtung, zumindest Informationsverweigerung darstellt. Nur beim Ausloten der Differenzen wird der Wunsch erfüllt, den Hubert von Goisern in einem seiner Lieder formuliert:

                                                                                    I muass e nit euss vaste,

                                                                                    aber a Wengerl waar scho sche.


Dazu passt noch eine Bemerkung von Joan Holender, der zu Recht darauf hinweist, dass sich eine Aufführung nur begrenzt im Fernsehen vermitteln lässt: Wenn ich aus der Oper komme, bin ich mitgenommen, hingerissen, verärgert, was auch immer. Sehe ich die Oper im Fernsehen, gehe ich danach einfach ins Bett. Auch das muss möglich sein. Anregungen und Neugier kann auch das Fernsehen wertvoll machen. Dennoch: Eine Krücke bleibt eine Krücke. Nur wer sie wegwirft, merkt, ob er wieder gehen kann.


Nicht nur aus gegebenen Anlass, voller Neugier auf neue Unterschiede (Immer neu sei die Erfahrung; Johann Wolfgang von Goethe), immer wieder: Auf zu den Musen und in das neue Haus der Musik in Innsbruck!



September 2018
An dieser Stelle ist schon mehrfach darüber nachgedacht worden, dass es im wahrsten Sinne des Wortes frag-würdig ist, Authentizität, Wahrnehmung, die Ungleichzeitigkeit von wahrnehmen und widergeben bzw. kritisieren, die Schwierigkeiten des wechselseitigen Verstehens … „unschuldig“ zu benennen. Wir nehmen eben nicht voraussetzungslos wahr. Das Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum widmet von 27. April-28. Oktober 2018 diesem Thema eine Ausstellung. In der ferdinandea Nr. 43 (Februar – April 2018) lädt Franz Gratl, Kurator der Ausstellung, zum Besuch ein. Hier ein Auszug aus seinem bemerkenswerten Artikel mit der Überschrift: Stereo-Typen gegen eine musikalische Mono-Kultur. Eine Einladung, die eigene Erfahrung mit Musik zu hinterfragen.“


„Eine Musikausstellung ist immer eine besondere Herausforderung: Wie stellt man Musik aus, die doch im Moment ihres Erklingens entsteht und sich mit dem letzten Ton verflüchtigt? Ja, es gibt die Instrumente, die Noten als verschriftlichte Musik, es gibt die Ausführenden, das Publikum, die Räume… aber der Akt des Musikmachens und der besondere Moment des Musikerlebens sind auch in Zeiten der technischen Reproduzierbarkeit von Musik nicht zu ersetzen und schwer darstellbar. Dabei ist Musik in unserer Gesellschaft allgegenwärtig: Viel zu oft wird sie deswegen für selbstverständlich gehalten, viel zu selten reflektieren wir über die Rezeption von Musik.


Die Art und Weise, wie Musik öffentlich vermittelt wird, wurzelt durch und durch im bürgerlichen 19. Jahrhundert. Das gilt beileibe nicht nur für die sogenannte „klassische“ Musik. Für die konzertante Vermittlung von Musik haben sich vielfältige Rituale und Konventionen herausgebildet, die oft genug unbewusst ablaufen und genreübergreifend ähnlich ausgeprägt sind. Ein Popkonzert mag eine andere Atmosphäre haben als ein klassisches Konzert, beide haben aber ihre Inszenierung, ihren Dresscode, ihre Dramaturgie, ihren Starkult und ihre Fan-Communities.


In unserer Ausstellung begegnen wir der Musik in ihrer Vielfalt in inszenierten Räumen: Im Unterrichtszimmer, in der Werkstatt, im Salon und im Konzertsaal. Überall in diesen Räumen intensiver individueller oder kollektiver Musik-Erfahrung begegnen wir ihnen, den Stereo-Typen: LehrerInnen, SchülerInnen, ExpertInnen, Stars, Fans. Im Zusammenwirken dieser unterschiedlichen Stereo-Typen entstand unsere Musikkultur, deren Rituale und Konventionen wir heute vielfach unhinterfragt akzeptieren und weitertradieren.


Solche Stereo-Typen gründeten und trugen auch den Innsbrucker Musikverein, dessen 200-jähriges Gründungsjubiläum Anlass dieser Ausstellung ist. Die BesucherInnen der Schau, selbst unterschiedlich musikalisch geprägte Stereo-Typen, sind eingeladen, ihren Platz in diesen Musikräumen zu suchen und zu hinterfragen. Wir bieten keine vorgefertigten Antworten, sondern wir wollen mit dieser Ausstellung die BesucherInnen einladen, sich spannenden Fragen zu stellen: Welchen Platz nimmt Musik in unserer Gesellschaft ein? Wie sehr gehört sie noch immer zum klassischen Bildungskanon? Wie sehr wirkt Musik identitätsstiftend? Wer sind die Stereo-Typen, die sich besonders intensiv mit Musik auseinandersetzen? Was treibt sie an?“




April 2018
Die Diskussion um Authentizität und Regietheater wird nie enden. Dennoch ist immer wieder daran zu erinnern, dass es keine Wiederholung von Authentizität geben kann.


Photographieren heißt: seinen Fotoapparat erforschen (Villem Flusser). Regie führen heißt: ein Stück erforschen – einschließlich der Chance und des Risikos eines Skandals. Mit sich selbst identisch und authentisch ist nur die unmittelbare Aufführung. Alles andere ist bereits ungleichzeitig, interpretationswürdig und interpretationsbedürftig. Für den Zuschauer ohnehin. Da hilft es auch nicht zu fordern, Wagneropernregisseure mögen aus dem Reklamheftchen ihre Regieanweisungen  herauslesen oder aus dem Originalmanuskript. Letzteres ist von Wagner häufig immer wieder geändert worden. Seine zum Teil akribischen Inszenierungshinweise widersprechen auch dem Gedanken eines Gesamtkunstwerkes, das Raum und Zeit aufgreift. Manche Anspielung wird heute gar nicht mehr verstanden, und diejenigen die „Werktreue“ fordern, was immer das sein mag, sind häufig auch gleichzeitig diejenigen, die beklagen, dass es keine „Übersetzung der Wagneropern ins Deutsche“ gibt.  „Werch ein Illtum“ kann man da nur mit Ernst Jandl ausrufen. Natürlich lässt sich darüber streiten, ob die edlen Ritter von Brabant in Rattenkostümen auftreten müssen. Aber dann lasst uns darüber streiten! Lasst und dann aber auch klären, was die Vorverständnisse der Streitenden sind, und inwiefern sie kritisch gewürdigt werden können. Inwiefern und unter welchen Vorbedingungen und Vorannahmen wird gestritten? Viele, die die Neuenfels-Inszenierung von LOHENGRIN in Bayreuth gesehen haben, waren keineswegs so ablehnend wie diejenigen, die nur Zeitungskritiken oder Tagesschauausschnitte vor sich hatten oder diejenigen, die schon wussten wie es zuzugehen hat. 


Wagner wäre heute vermutlich ein großer Hollywoodregisseur und würde sich beispielsweise modernster Bühnen- und Medientechnik bedienen. Und die Metropolitan Opera tut das eben, grandios beispielsweise in der RING-Inszenierung. Und Wagner würde auch heute wieder Skandale auslösen, wie manche seiner Opern bei der Uraufführung. Wer wollte sich solcher Innovation von vornherein verweigern?!



Dezember 2016

Wer meint, nach der zwölften Aufführung von PARSIVAL diese Oper verstanden zu haben, - irrt. Das gilt auch ganz generell nach zweihundert Vorstellungen für Opern, Theateraufführungen oder Konzerte, letztendlich ebenso für Bilder und andere kommunikative Äußerungen. Wir können aber mit anderen Menschen über die Verständnisse einer Darbietung sprechen. Manchmal wird das nur eine Bemerkung sein. Manchmal hören wir einen Belehrungsversuch, z.B. verbunden mit dem Verständigungsabbruch „Das ist eben meine Meinung!“ Gelegentlich überrascht uns der ernsthafte Versuch zu gemeinsamem, wechselseitigem Verständnis zu kommen. Letzteres ist trotz bester Absicht nur in Grenzen möglich, dennoch erstrebenswert.


   Schließlich passiert es immer wieder, dass andere Theater- oder Ausstellungsbesucher bei einem Pausengespräch hinzutreten und ganz andere Eindrücke äußern. Warum, fragen sie vielleicht, sagt Christoph Schlingensief zu seiner Bayreuther Parsival-Inszenierung: „Die Bilder werden bleiben“? Während wütende Kritiker diese Bilderflut verdammen. Ein paar Jahre später, ebenfalls in Bayreuth: „Darf das denn sein, dass die edlen Ritter von Brabant als Ratten daherkommen?“ Oder – vor Jahren - eine Frage nach einer Inszenierung (Robert Wilson) von König Lear in Frankfurt: „Was hat das Geräusch eines tropfenden Wasserhahns mit Lears Handlung auf der Heide zu tun?“ Nun, für manche und für manchen hat es, für andere hat es nicht. 


   Wir sind Erinnerung, Gedächtnis und Persönlichkeit lässt sich in enger Anlehnung an einen Buchtitel von Daniel L. Schacter (Reinbek bei Hamburg 1999) formulieren. Wir erleben eine Performance und fassen sie an wie ein Blinder eine Skulptur. Wir können dieses „Begreifen“ beschreiben oder uns beschreiben lassen. Wir können es auch selbst zu beschreiben versuchen, aber das Begreifen unvermittelt zu begreifen gelingt nicht. Die Beschreibung, selbst die Wiederholungen treten immer schon in einem anderen Zeichensystem auf, einem anderen Code, unabdingbar ungleichzeitig und auf kaum bestimmbare Weise selektiv zum „unmittelbaren“ Geschehen und seinem Wahrnehmen. „Verstehen einer Aufführung ist in diesem Sinne als ein prinzipiell unabschließbarer Prozess zu begreifen, den das betreffende Subjekt immer auch als einen Prozess der Selbstverständigung vollzieht.“ (Erika Fischer-Lichte: Was heißt es, eine Aufführung zu verstehen?) Warum sehe, höre, fühle, rieche ich wie ich sehe, höre, rieche, fühle? Wahrnehmung ist nicht überholbar. Sie findet nicht nur statt, wenn der Betrachter oder die Betrachterin sich bemühen.  Sie findet auch statt, wenn unreflektiert und selbstmissverständlich nur der Wiedererkennungswert eines Malers oder die Möglichkeit zur mehr oder weniger nostalgischen Rückwendung auf sozialisierte Hör- und Betrachtungsgewohnheiten geschätzt werden.


   Wer mehr über das Thema erfahren will, greife zu dem Buch, dem das Zitat und andere Anleihen bei Erika Fischer-Lichte entnommen sind: Verstehen & Verständigung, herausgegeben von Klaus Sachs-Hombach (Köln 2016).

Warum das alles? Weil wir kommunikative und gesellschaftliche Wesen sind, die, wenn sie sich verständigen wollen, immer schon unterstellen müssen, dass der Andere/ die Andere einen verstehen können. Andernfalls schweigen wir…


August 2016

Wer meint, nach der zwölften Aufführung von PARSIVAL diese Oper verstanden zu haben, - irrt. Das gilt auch ganz generell nach zweihundert Vorstellungen für Opern, Theateraufführungen oder Konzerte, letztendlich ebenso für Bilder und andere kommunikative Äußerungen. Wir können aber mit anderen Menschen über die Verständnisse einer Darbietung sprechen. Manchmal wird das nur eine Bemerkung sein. Manchmal hören wir einen Belehrungsversuch, z.B. verbunden mit dem Verständigungsabbruch „Das ist eben meine Meinung!“ Gelegentlich überrascht uns der ernsthafte Versuch zu gemeinsamem, wechselseitigem Verständnis zu kommen. Letzteres ist trotz bester Absicht nur in Grenzen möglich, dennoch erstrebenswert.


   Schließlich passiert es immer wieder, dass andere Theater- oder Ausstellungsbesucher bei einem Pausengespräch hinzutreten und ganz andere Eindrücke äußern. Warum, fragen sie vielleicht, sagt Christoph Schlingensief zu seiner Bayreuther Parsival-Inszenierung: „Die Bilder werden bleiben“? Während wütende Kritiker diese Bilderflut verdammen. Ein paar Jahre später, ebenfalls in Bayreuth: „Darf das denn sein, dass die edlen Ritter von Brabant als Ratten daherkommen?“ Oder – vor Jahren - eine Frage nach einer Inszenierung (Robert Wilson) von König Lear in Frankfurt: „Was hat das Geräusch eines tropfenden Wasserhahns mit Lears Handlung auf der Heide zu tun?“ Nun, für manche und für manchen hat es, für andere hat es nicht. 


   Wir sind Erinnerung, Gedächtnis und Persönlichkeit lässt sich in enger Anlehnung an einen Buchtitel von Daniel L. Schacter (Reinbek bei Hamburg 1999) formulieren. Wir erleben eine Performance und fassen sie an wie ein Blinder eine Skulptur. Wir können dieses „Begreifen“ beschreiben oder uns beschreiben lassen. Wir können es auch selbst zu beschreiben versuchen, aber das Begreifen unvermittelt zu begreifen gelingt nicht. Die Beschreibung, selbst die Wiederholungen treten immer schon in einem anderen Zeichensystem auf, einem anderen Code, unabdingbar ungleichzeitig und auf kaum bestimmbare Weise selektiv zum „unmittelbaren“ Geschehen und seinem Wahrnehmen. „Verstehen einer Aufführung ist in diesem Sinne als ein prinzipiell unabschließbarer Prozess zu begreifen, den das betreffende Subjekt immer auch als einen Prozess der Selbstverständigung vollzieht.“ (Erika Fischer-Lichte: Was heißt es, eine Aufführung zu verstehen?) Warum sehe, höre, fühle, rieche ich wie ich sehe, höre, rieche, fühle? Wahrnehmung ist nicht überholbar. Sie findet nicht nur statt, wenn der Betrachter oder die Betrachterin sich bemühen.  Sie findet auch statt, wenn unreflektiert und selbstmissverständlich nur der Wiedererkennungswert eines Malers oder die Möglichkeit zur mehr oder weniger nostalgischen Rückwendung auf sozialisierte Hör- und Betrachtungsgewohnheiten geschätzt werden.


   Wer mehr über das Thema erfahren will, greife zu dem Buch, dem das Zitat und andere Anleihen bei Erika Fischer-Lichte entnommen sind: Verstehen & Verständigung, herausgegeben von Klaus Sachs-Hombach (Köln 2016).

Warum das alles? Weil wir kommunikative und gesellschaftliche Wesen sind, die, wenn sie sich verständigen wollen, immer schon unterstellen müssen, dass der Andere/ die Andere einen verstehen können. Andernfalls schweigen wir…


Juli 2016

Ist Ihnen das auch schon mal so ergangen, dass Sie mit einer Inszenierung überhaupt nicht zu Recht gekommen sind? Eigentlich ließe sich das Problem leicht lösen. Zumindest könnten wir versuchen, uns hinein zu versetzen, im Falle eines Dramas oder einer Oper etwa in den Regisseur. Das ist auch in jeder Alltagssituation so, in der wir genötigt sind oder genötigt werden, eine Anfrage, einen Zeitungskommentar, eine Konzert- oder Theaterkritik, ein Bild  zu verstehen. Das Angebot verlangt eine Gegengabe, wiederum  Kritik („Der war wohl in einem anderen Konzert!“) oder Zustimmung, Interpretation oder Einsprüche, Applaus oder Pfiffe, Konsum oder Konsumverweigerung, Hineinversetzen oder Ignorieren.  Indem wir uns auf diese Weise selbst inszenieren, antworten wir auf die Herausforderung und/oder Verführung des Stückes, des Autors, dessen, der es in Szene setzt, aber auch auf die Herausforderungen und Verführungen, denen unsere Bildungserlebnisse uns ausgesetzt haben.


Das Ganze, das heißt, das Bild, das Stück, die Inszenierung und unsere Einlassung darauf bilden die jeweils aktuelle Realität. Nun ist aber gerade diese Realität im landläufigen Sinne eher hierarchisiert, die Autorenschaft dem Schreiber, dem Maler oder dem Komponisten zugeschrieben und nicht dem Leser, Betrachter und Hörer. Das ist aber keineswegs selbstverständlich. Akteure, Autoren  oder professionelle Kritiker wollen in aller Regel uns nicht zum authentischen Interpreten ihrer Äußerungen machen. Auch wenn sie das nicht zugeben.


Nur Marketingstrategen oder Politiker versuchen offensichtlich uns glauben zu machen, wir wären die authentischen Nutzer ihrer Anzeigen. Aber Herausforderung und  Verführung durch Eltern, Cliquen, Schule, Inszenierung, Kommentare der Alltagspresse, Traditionen und Gewohnheiten spielen immer schon mit bei der ordnenden Inszenierung und den damit verbundenen, beabsichtigten Deutungszuweisungen. Das ist in hohem Maße paradox. Verstehen wird suggeriert, wo nichts oder vieles nicht zu erklären und nicht zu verstehen ist. Anders ist Theater, eine Inszenierung, ein Bild, ein Konzert, eine Oper, ein Gesicht gar nicht zu verstehen, wenn nicht als das nicht hinreichend zu Erklärende, dessen Magie uns immer wieder herausfordernd anregt. Wer freilich nur den konsumierbaren Wiedererkennungswert seiner Gewohnheiten sucht, wird bei Abweichungen aufgeregt und unbefriedigt die Szene verlassen, nicht erkennend, dass es die Szene war, die das lebendige Erleben der Aufregung verschafft hat.


(Mehr dazu in dem sehr guten, aber schwer zu lesenden Buch von Ralf Bohn: Szenische Hermeneutik. transcript Verlag, Bielefeld 2015)



Juli 2015

„Musik, Sie erhebt Dich in Sphären, in die der Gedanke nicht dringt.“ (Richard Strauss).


Das ist „schön“ und wenig aussagekräftig zugleich. In Pausengesprächen lässt sich das gelegentlich beobachten; auch nach einem Konzert, einer Oper oder einem Ausstellungsbesuch kann man Bemerkungen hören wie „Das war sehr schön/schlecht.“ „Hat mir gut/weniger gefallen.“ „Ging (nicht) an mich.“ Im Grunde ist der Informationsgehalt solcher Aussagen gleich Null. Sie geben keinen Hinweis auf das, was geschehen ist und deuten allenfalls oberflächlich eine nicht benannte Befindlichkeit des Mitteilenden an. Das ist nicht verwunderlich; passiert doch letztendlich besonders in modernen Inszenierungen von Musik, Theater oder bildender Kunst, deren Leseweise (noch?) keineswegs allgemein eingeübt wurde, vielfach Unbegreifliches, möglicherweise sogar Unbegreifbares, wenn man es an dem Gewohnten misst.


Die gegenwärtige Aufführungs-/Performancepraxis ist, wenn man sich darauf einlässt, eine „Differenz-Erfahrung“ (Isa Wortelkamp), die mit konventionellen Wahrnehmungs- und Sinnzuweisungen häufig bricht. Unsere (häufig elitäre) Kunstwahrnehmungssozialisation, die eingeübten Seh-, Hör- und Interpretations-Konventionen und -Gewohnheiten werden nicht selten über den Haufen geworfen – von anderen, nicht minder elitären Vorstellungen. Die entstehende Un-Sicherheit und Un-Gewissheit verwirrt; manche postulieren, dass das die Aufgabe von Kunst sei: Differenzerfahrung. Zugleich eröffnet sich dabei ein Universum kreativer Möglichkeiten, in dem wir unsere bisherigen ästhetischen Erlebensweisen erweitern können. Freilich gelingt das nur, wenn wir es wenigstens versuchen, uns darauf einzulassen. Wie also lässt sich das Unbegreifbare (und grundsätzlich ist unsere persönlich Erfahrung für einen anderen immer unbegreifbar) zur Sprache bringen?


Das gilt nicht nur für die Performance von Philippe Quesne/Vivarium Studio Paris: La Méanch0lie des Dragons, sondern auch für eine Aufführung des Rosenkavalier, für Christoph Schlingensiefs Inszenierung des  Parzival in Bayreuth oder eine Choreographie von Pina Bausch. Oder wie Sigi Sommer schrieb: „… wenn die Goldfische sterben, ist es immer sehr still." Ist das ein begreifbarer Satz? Vielleicht gibt es einen Skandal der Goldfischzüchter. Und was ist mit den anderen? Wie könnte das Fremdwerden der Erfahrung im Beschreibungstext aufscheinen? Müsste das Versprachlichen eher einem Stottern, Stammeln und Staunen gleiche? Oder sollte es gänzlich aufgegeben werden?“ (Denis Leifeld)  Wer so fragt, gibt nicht auf.


„Performances zur Sprache bringen – Zur Aufführungsanalyse von Performern in Theater und Kunst“ heißt ein nicht ganz leichtes, aber ungewöhnlich anregendes Buch für alle, die über die Konsumentenhaltung beim Kunstgenuss hinaus denken wollen. Auch für diejenigen, die manche Kritik an Vorstellungen oder über Ausstellungen befremdlich finden. Das Buch ist noch druckfrisch: 2015, transcript Verlag, Bielefeld.


Dezember 2014

Inszenierungen rufen immer wieder heftige Proteste und Kontroversen hervor. Und einige rufen dann rasch „Regietheater!“ Dabei heißt Inszenierung: „In Szene setzen“. Dem gesprochenen Wort oder den Noten sollen Bilder, Töne, Klangfarben hinzugefügt werden. Hinzugefügt, nicht zugefügt. Das laut gelesene Gedicht, ist eben etwas anderes als das Gedicht auf dem Blatt Papier.


Wenn beispielsweise auf den Eintrittskarten zum WAR REQUIEM von Benjamin Britten „ein schöner Abend“ gewünscht wird, dann ist das einwandfrei daneben. Das kann auch bei einer Inszenierung passieren und wird keine Kontroversen hervorrufen, allenfalls Kopfschütteln. Entstehen dagegen Kontroversen, stoßen Vorstellungen über in Szene setzen manchmal wie tecktonische Platten aufeinander. Interessant wird es freilich erst, wenn man den Gründen für die unterschiedlichen Bewegungen und Erstarrungen nachgeht.


Richard Wagner ist das immer wieder wichtig gewesen. Aber in dieser Hinsicht ist er keine Ausnahme. Bei Autoren wie Komponisten lässt sich leicht zeigen, dass sie ihre Arbeiten immer wieder verändert oder neu konzipiert haben, mitunter sogar verworfen, weil sie an den eigenen Ausdruckmöglichkeiten gezweifelt haben. Wenn das schon für die Urheber und Urheberinnen von Werken gilt, so muss es mindestens in gleichem Maße für die Perzeption gelten. Wer liest oder hört, darf sich auf Überraschungen freuen, die zu den bisherigen eigenen Vorstellungen, die im Übrigen auch immer vom jeweiligen aktuellen Kontext abhängen, dadurch etwas hinzufügen, dass sie eine Differenz aufmachen über die sich nachdenken und miteinander reden lässt. Warum höre ich gerade jetzt so wie ich jetzt höre? Ist mir bewusst, dass andere immer anders hören und ich das nicht hören kann? Und dass es da kein richtig oder falsch gibt wie in einem Kreuzworträtsel.


Heinrich von Kleist würde sagen: Es ist eine dumme Frage, wenn gefragt wird: Ist das Kunst, oder was ist Kunst, oder ist das richtig inszeniert - und wenn darauf eine abschließende Antwort erwartet wird. Die Antworten, die im Kreise kenntnisreicher und engagierter Menschen in einem Gespräch, vielleicht bei einem Glas Wein aufkommen, lassen dagegen das Drehen und Wenden dieser Antworten und den Gegenstand der Frage zu einem Erlebnis werden, zu einer gelungenen Inszenierung.



Oktober 2014

„Ich will nicht leugnen: Manchmal erfüllt mich ein Überdruss gegenüber Wagner-Inszenierungen. … Sowenig Opern Museumsexponaten gleichen, so gefährlich scheint mir die Schere im Kopf mancher Regisseure, die ihnen zwanghaft alles das verbietet, was sie für Konvention halten, für dienendes ‚Vom-Blatt-Spiel‘, für unoriginell.“ Mal abgesehen davon, dass sich in der ihm eigenen Bescheidenheit Joachim Kaiser zum Schiedsrichter macht, ist doch auch eine Mahnung in diesen Sätzen zu lesen. „Zwanghaft“ kann kein guter Ratgeber sein. Wer vom Zwang in Haft genommen wird, ist stark eingeschränkt in seinen Gestaltungs- und Interpretationsmöglichkeiten. Das gilt gleichermaßen für Regisseure, Dirigenten, Bühnen- und Kostümbildner, Zuhörer und Zuschauer – immer beiderlei Geschlechts. Grundsätzlich gilt das auch bereits für Komponisten, Autoren und Kritiker.


So lässt sich nicht leugnen, dass sich auch bei der unendlichen Literatur, die es zu Richard Wagner und seinem Werk gibt, Überdruss einstellen kann.


Fragt sich nur: Bei wem tritt an welchen Stellen, bei welchem Anlass dieser Überdruss auf? Wie äußert er sich, und inwiefern ist dieser Überdruss selbst Ausdruck einer gewissen Zwanghaftigkeit, die – aus Konvention und Tradition – alles das verbieten will, was für unzumutbare Konvention, für dienendes „Vom-Blatt-Spiel“, für unoriginell oder für das Gegenteil gehalten wird. Fragt sich immer wieder auch: Überdruss oder Überdruck, worüber genau, von wem, mit welcher Begründung?  Aber selbst, wenn wir glauben, die eine oder andere Antwort geben zu können: DIE Antwort  gibt es nicht! Das ist auch all denjenigen ins Stammbuch zu schreiben, die gelegentlich aus dem Richard-Wagner-Verband die Nomenklatura für den richtigen Umgang mit diesem Komponisten – seinem Leben und seinem Werk –  machen wollen. Sie verletzen das Grundprinzip der Kunst, das beispielsweise in Anlehnung an Christoph Schlingensief formuliert werden kann: Der letzte und wichtigste Grund der Kunst ist das Gefordert sein und das Gefordert werden. Und auch das gilt wieder für alle, die nicht nur Konsumgüterproduzent oder Konsument sein wollen, also  für Regisseure, Dirigenten, Bühnen- und Kostümbildner, Zuhörer und Zuschauer – immer beiderlei Geschlechts; das ist das Rezept gegen Überdruss: Nehmen wir die Herausforderung an.



August 2014

Werden musikalische Darbietungen beurteilt, von professionellen Kritikern wie auch von anderen musikinteressierten Menschen, fällt häufig das Wort „authentisch“. Authentisch soll die Vorführung sein, ist die entsprechend oft gehörte Forderung. Unbestreitbar daran ist, dass sich anhand vieler Quellen zeigen lässt, wie die Komponisten selbst immer wieder um den Ausdruck gerungen haben, der das zu Gehör bringen sollte, was sie für ihre Absicht und geeignete Darstellung dieser Absicht ansahen. Darauf soll sich Authentizität gründen.


Erstaunlich bleibt dann allerdings das Bedauern, dass der eine oder andere Komponist das eine oder andere seiner Werke immer wieder geändert oder auch nie zu Gehör bekommen hat. Sucht man nach dem Seinshintergrund der Musik, gewissermaßen ihrem Eigensinn (der Philosoph Gunnar Hindrichs nennt das „Die Autonomie des Klangs“. Berlin 2014), muss man sich der damit verbundenen Unterstellungen bewusst zu werden versuchen. Interpretation ist immer schon voraussetzungsvoll und setzt bei Musik als Kunstwerk nach europäischem Verständnis natürlich, welche Tautologie, immer schon ein Notenblatt voraus.


Der Streit geht nun darum, ob ein musikalisches Kunstwerk ein Sein oder im Werden sei. Material, Klang, Zeit, Raum, Sinn und Gedanke sind scheinbar Kategorien, die ein Musikstück voraussetzen, um es interpretieren zu können. Aber dieser Gedanke ist zugleich kurzschlüssig. Immerhin sind bereits Schreiberin und Schreiber vorauszusetzen und in ihrer Kontextabhängigkeit nicht zu unterschlagen. Das musikalische Material und die von den Komponisten in Noten und anderen Forderungen artikulierte Tendenz sind infolge der reinen Gegenwart des Tons weniger eindeutig als eine positivistisches Musikverständnis zu vermitteln versucht. So wenig der Fotoapparat nur die Bilder macht, so wenig machen das Instrument oder das Orchester nur und eindeutig die Musik. Fotografieren ist nach Vilém Flusser eine Erforschung des Universums des Fotoapparats. Das Konzert wäre in diesem Sinne die Erforschung des musikalischen Universums der Partitur, immer wieder neu, immer wieder faszinierend, immer wieder bestreitbar.


Wer je ein Instrument zu lernen versucht hat, wird sich auch ganz persönlich vielleicht ein wenig und manchmal schmerzvoll an dieses Forschen erinnern.



Februar 2014
Die Fragen sind ewig, die Antworten vergänglich: Was sehen wir, wenn wir sehen wie wir sehen? Was lesen wir, wenn wir lesen wie wir lesen? Was hören wir, wenn wir hören wie wir hören?


Die Frage ist auch nicht, ob uns etwas gefällt oder nicht. Interessant wird eine Aufführung erst, wenn wir darüber nachdenken, warum uns etwas gefällt – oder nicht. Da lohnt es sich, sich zuerst an die eigene Nase oder das eigene Ohr zu fassen. War die Aufführung wirklich schlecht, oder wollen wir nur nicht unsere eingefahrene Konsumgewohnheit aufgeben? Was sagt mein Urteil zu einer Aufführung im heutigen Kontext – auch über mich, vor allem über mich.


„Nathan der Weise“, Lessings Dramatisches Gedicht aus dem Jahre 1779, ist zweifellos eine halbszenische Philosophievorlesung, die heute noch gilt („gelten sollte“ ist wohl besser). Und gut gespielt, wird sie auch konkret, heute, im Hier und Jetzt. Die blanke Übernahme vergangener Erfahrungen ist häufig nicht mehr als Geiselnahme durch unsere Vergangenheit.


„Immer neu sei die Erfahrung“ heißt es in Goethes Gedicht „Jugend“. Auch für ältere Semester ergäbe diese Zeile ein faszinierendes Motiv für Theater-, Konzert- und Opernbesuch.


Januar 2014

Jubiläumsjahre gibt es unendlich viele, und im Grund kann man froh sein, wenn sie vorbei sind. Natürlich regen sie auch an, lassen einen intensiver in das Werk des Gefeierten oder der Gefeierten heran gehen. Bis zum nächsten Jubiläum dürften nun die hellen Seiten wieder weniger grell ausgeleuchtet und manche dunkle Seite weniger radikal ausgeblendet werden. Das Wagner- und Verdi-Jahr machen da keine Ausnahme. Gut drückt das der Titel einer Ausstellung im Jüdischen Museum Wien aus:  „EUPHORIE und UNBEHAGEN – Das jüdische Wien und Richard Wagner“ – und das gilt nicht nur für das jüdische Wien.  Die sehenswerte Ausstellung  kann noch bis zum 16. März 2014 in der Dorotheergasse besucht werden.


Im Gesamtkunstwerk im Sinne Wagners gehören Musik, Text und eben auch  der Kontext, der historische wie der heutige der Wagner-Rezeption. Das wird auch in Zukunft zu heftigen Auseinandersetzungen führen.  Wer den jeweils heutigen Zusammenhang leugnen will, wird sich auf Werktreue berufen, die es gar nicht gibt, gar nicht geben kann. Wer für die Menschen von heute inszenieren will, wird veränderte Wertvorstellungen, verändertere Seh-, Hör- und Wahrnehmungsgewohnheiten, neu erforschte Interpretationsmöglichkeiten, aber auch die moderne Bühnentechnik , veränderte Instrumente und ihre Stimmung etc.  als Argumente für seine Inszenierung ins Feld führen.


Die These, dass Wagner seine Musik als Träger seiner Ideologie eingesetzt hat, relativiert sich dann in der Gegenwart. Wir hören immer JETZT. Dass die These für Wagner selbst gelten kann, muss nicht verwundern. Wenn wir dieser - mit heutigen Worten gesprochen - Marketingstrategie nicht auf den Leim gehen wollen und auch nicht eindimensional  die Beschäftigung mit Wagners Musik vor lauter „Dunkelheit“ oder versteckter Ideologie glauben herunterfahren zu sollen, müssen wir eben gerade den Kontext dieser großartigen Musik mitdenken können, besser wohl sogar die Kontexte von ihrer Entstehung bis heute. Insofern ist das Jubiläumsjahr keine Zäsur, sondern eine erneute Aufforderung.


Dezember 2013

Das Jubiläumsjahr ist vorbei. Wagner und Verdi hatten es eigentlich gar nicht nötig. So sehr es den Wagner und Verdi-Freund dennoch freut, ein wenig schade um viele andere, deren Bild von diesen beiden Titanen weitgehend überlagert wurde. Die uns am nächsten gelegenen Tiroler Festspiele in Erl hatten antizyklisch 2013 keine Wagneroper im Programm. Das ändert sich 2014. Der gesamte RING wird zu hören und zu sehen sein. Sogar zweimal. Einmal gibt es den RING in den üblichen vier Tagen mit dem Ruhetag nach der WALKÜRE. Wieder aufgenommen, zu Ehren des großen Mäzens von Erl, Dr. Hans Peter Haselsteiner, der 2014 einen runden Geburtstag feiern kann, präsentiert und dirigiert Maestro Gustav Kuhn den RING in 24 Stunden. Wer beim erstenmal dabei war, weiß, warum diese Aufführung inzwischen Kultstatus erlangt hat! Sie wird diesmal sehr rasch ausverkauft sein.


Spektakulär und von hoher Qualität werden auch die übrigen Veranstaltungen in diesem Erl-Sommer werden. Da fällt es leicht, den Besuch dringend anzuraten.


November 2013

Ob man über die Feiertage gerade Wagners RING hören will, ist eine sehr persönliche Entscheidung. Zeit wäre jedenfalls dafür da. 832 Minuten dauert die immer wieder als Jahrhundertinszenierung genannte Aufführung  DER RING DES NIBELUNGEN, Dirigent: Pierre Boulez, Regie: Patrice Chéreau. Bei UNITEL ist das alles auf DVD zu erhalten.  Für unerbittliche Fans, die es gar nicht lassen können, den Ring erneut und immer wieder zu erleben, gar kein schlechtes Geschenk. Man muss sich das ja nicht in vierzehn Stunden ansehen und anhören. Und wer gelegentlich einnickt, hat den Vorteil, zuhause zurückspulen zu können. Als Einstimmung und Vergleich mit anderen Ringinszenierungen, z. B. im nächsten Jahr in Erl und in Linz oder in Budapest, wäre es einen Versuch wert.  


Für den besonderen Geschmack gibt es den RING auch fantastisch gelesen von Sven Eric Bechtolf. Ohne Musik natürlich etwas kürzer. In Buenos Aires  war beispielsweise geplant, den ?gesamten? Ring in fünfeinhalb oder sechs Stunden aufzuführen. Alle Wiederholungen, die in den einzelnen Teilen notwendig sind, wenn die Opern einzeln aufgeführt werden, sollten gestrichen werden.


Die Frage ist und bleibt berechtigt, wie weit Regietheater gehen darf? auch: auf welche Weise uns heute noch aufregen oder wenigstens anregen kann, was einmal ein Skandal war, wie beispielsweise der oben genannte RING von Boulez und Chéreau?


Oktober 2013

Wer immer nach dem sucht, was er/sie versteht, versteht gar nichts, häufig vermutlich nicht einmal sich selbst. Warum verstehen wir etwas oder glauben etwas zu verstehen, wenn wir unser Verstehen nicht an die Grenze frühen, wenn wir aufhören zu fragen, weil, wenn und warum  wir nichts mehr verstehen – aber glauben zu wissen, dass wir eine Oper, ein Inszenierung, eine Symphonie bereits richtig verstanden zu haben?  Was muss geschehen, damit Tannhäuser oder Sacre du Printemps noch einen Skandal auslösen wie bei der Uraufführung? Beziehungsweise, woran haben wir uns gewöhnt, wenn das unseren Urgroßeltern und Großeltern noch die Zornesader schwellen und sie auf Hausschlüssel pfeifen ließ? Sich von der Grenze her definieren, dem vermeintlichen (unbefragten oder absolut gesetzten) Verstehen, schließt und schließt aus. Kommunikation im eigenen Saft.


Kunst ist immer der Versuch, die Grenze anzuschauen und mutig, experimentell, intuitiv, spontan, provozierend oder alles zusammen zu überschreiten. Das wird nicht immer gelingen, aber das ist den Versuch wert. Die Differenz regt an, nicht der Wiedererkennungsimpuls. Der macht eher eitel und kann schnell fad werden oder – und dafür gibt es in der Musik- wie in der Kunstkritik berühmte Beispiele – kann dazu führen, Entwicklungen und  die Zukunft aus den Augen zu verlieren. Mit der Frage, ob eine Inszenierung „richtig“ sei oder „falsch“, tappen wir  in eine Falle, die wir uns selbst stellen. Die Frage, die weiterbringen könnte, wäre: Inwiefern, unter welchen Bedingungen – äußeren und mentalen, erlernten und irgendwie gesellschaftlich erworbenen – kommen ein Regisseur oder eine Regisseurin, kommen eine Dirigentin oder ein Dirigent zu Interpretationen, kommen jede und jeder von uns, die vom Bisherigen abweichen oder es betonen, zu einer Einschätzung? Die Differenz stößt mich manchmal vor den Kopf. Gewinn verspricht sie, wenn ich das überwinde und mich neugierig machen lasse, weil die neue Interpretation gestattet, das Gehörte, Gesehene, Erlebte zu drehen und zu wenden und Neues zu erfahren. Vielleicht gerät dann mein Urteil selbst differenzierter und maßt sich nicht eine Aburteilung an.


September 2013

Christopher Schmidt und Helmut Mauró haben in der Süddeutschen Zeitung am 3./4. August 2013 im Feuilleton zwei lesenswerte Artikel zur Macht der Bilder  in Oper und Theater geschrieben. Ersterer meint, dass die Sparten (Schauspiel und Oper) ihre Rollen getauscht hätten:  „Wenn die Innenwelt zur Außenwelt wird, dann ist die Bühne Bedeutungsträgerin.“ Das liegt natürlich auch an unseren Sehgewohnheiten, die von denen vergangener Jahrhunderte technisch und inhaltlich sehr verschieden sind. Die Totale will mehr Personen und Bildregie in der Oper, will Musiktheater. So setzte bereits vor 15 Jahren Peter Jonas in München eine stark übergewichtige Starsopranistin, die in Webers Der Freischütz die Agathe singen sollte, als nicht mehr tragbar (was für eine schöne Anspielung!)  an die Luft.  Kurz vor der Premiere. Viele sind auch der immer extremeren nur intellektuellen und zum Teil sehr selbstdarstellerischen Regieeinfälle überdrüssig. „Da ist eine übermächtige Bilderwelt mitunter willkommen ...“ – als Entlastung für die Akteure und die Zuschauer, auch wenn die Hälfte davon diese Entlastung nicht mitmachen will. Opernzuschauer sind nicht selten sehr konservativ und fordern das Gewohnte. Die Bilder unseres Alltags rücken uns mitunter unangenehm eng auf den Leib.


Schlingensiefs Parzifal in Bayreuth und Frank Castorfs diesjähriger Bayreuther Ring sind nicht die einzigen Beispiele für eine bewegte Entwicklung der Opernästhetik.  Verständlich meint Helmut Mauró: „Niemand will vier Stunden lang auf eine kahle Bühne starren müssen, auf der Opernhelden Mikado spielen: Wer sich zuerst bewegt, hat verloren.“  In der Schauspielwelt, nimmt dagegen das Sprechtheater wieder zu – gelegentlich bis zum statischen Textvortragen. 


Der Bilderwelt der Operninszenierungen entgegen steht, das wurde in Erl in diesem Sommer besonders deutlich, ein  Regieminimalismus, der die Oper in erster Linie von der Musik entfaltet wissen will. Fafner kann man stampfen hören, und bei der Entstehung des Rheins leistet mehr als alle Bilder der Es-Dur Akkord. Hören wir noch so genau? Oder wird uns die Welt immer mehr zum Bild, wenn nicht zum Bildchen? Nochmals Helmut Mauró „Sind ... plakative Bilder aus der Gegenwart nicht griffiger und einleuchtender als historische Regieanweisungen, die seinerzeit möglicherweise ähnliche Wirkung hervorbrachten? Richard Wagner liefert beste Voraussetzungen, um diese Frage zu diskutieren.“ Nicht jeder Regisseure wird darauf eine schlüssige Antwort finden, aber auch nicht jeder Komponist komponiert so schlüssig wie Richard Wagner und nicht jeder Dirigent dirigiert so schlüssig, dass die Frage nicht immer wieder aufgeworfen werden müsste. Könnt! „So viel Märchenzauber und intellektuelle Herausforderung wie möglich.“ (Mauró) Nicht entweder oder – sowohl als auch!


Juli 2013

Natürlich lässt sich belegbar die These vertreten, dass Richard Wagner mit seinen Opern, deren Musik und deren Gestalten seine nationalen, pangermanischen und antisemitistischen Gedanken untermauern und gewissermaßen marketingmäßig verbreiten wollte. Vielleicht aber wollte er sich im Jahre 1850, in dem die erste Fassung erschien, zunächst anbiedern, denn er war nahezu unbekannt und brauchte Aufmerksamkeit, die er von denen erhoffte, die den starken Antisemitismus dieser Jahre unterstützten. Aber er fand wenig Resonanz. Von einigen Professoren sogar energischen Widerspruch.


Neunzehn Jahre später war das anders.1869 war er als Musiker arriviert - wenn auch wie fast immer in Nöten. Aber die Menschen hörten und sahen nicht nur seine Opern, sondern lasen nun auch seine Schriften. In ihnen ließ sich nun nachvollziehen bzw. bei späteren Werken aus ihnen begründen, warum Beckmesser meckernd singen sollte, Ortrun eine üble Intrigantin ist, Alberich ein verschlagener und gewissenloser Ausbeuter und Kundry edle Gralsritter verführt. So greifen Musik und Text, Story und Ideologie ineinander. Freilich nicht nur zwangsläufig im Wagnerschen Sinne.


Die Geschichte zeigt bis heute, dass diese wirkmächtige Musik auch für andere Aussagen und Ideologien ge- und missbraucht werden kann.  Das ist es, was auch in Zukunft die Auseinandersetzung mit dem Gesamtkunstwerk Richard Wagner immer wieder notwendig machen wird.


Mai 2013

Das war zu erwarten: Im Jubiläumsjahr würde der Kampf zwischen hartgesottenen Wagnerianer und den Kritikern dieses außergewöhnlichen und außergewöhnlich umstrittenen Genies erneut toben. Erstaunlich ist nur, dass insbesondere die Kritiker des Menschen kaum von der Musik sprechen oder sie rasch auf die  manipulative Kraft für die widerwärtigen rassistischen und antisemitischen Schriften Wagners reduzieren.


Eleonore Büning hat dazu in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 19. Mai 2013 (S.41) einen anregenden Artikel geschrieben. Hier ein Auszug:

„Ja, schon seit jeher ist das Böse attraktiver als das Gute, das gilt nicht nur für Wagner ... Verdi, Beethoven, Berlioz, Mozart, Schubert wussten das ebenso. Die brutal zerrissenen Ecksätze aus der Hammerklaviersonate, das Dröhnen des ‚Dies Irae‘ aus dem Requiem, wenn die Knochen knacken, der Absturz ins Nichts in Schuberts C-Dur-Symphonie: schreckliche Musik, böse Musik, starke und schöne Musik. Sie leuchtet grell und kurz in den Abgrund, den jeder von sich selbst kennt. In der Antike nannte man das: Katharsis. Bei Goethe ist es die Kraft, die Gutes schafft. Was für eine gutmenschenfade Heuchelei geht da um unter den Wagnerfreunden, die den Krebs der Bosheit, die Pest des Irrtums, die apokalyptischen Reiter und alle sieben Todsünden am liebsten herausamputieren möchten aus Wagners Musik? Von keinem anderen Komponisten, nur von ihm wird das verlangt: Seine Musik soll sich besser benehmen als wir selbst. Schluss damit.“


April 2013

Lässt sich Akustik berechnen?


Natürlich haben an einem neuen Haus die besten Akustiker daran gearbeitet, um das maximale Hörerlebnis zu schaffen. Aber bei aller Expertise, es bleibt immer ein Rest, von dem alle nochmals ein Plus erwarten, wo freilich alle Rechenkunst und Simulation versagen. Das liegt nicht nur an der Technik, die auf ihre Weise auch begrenzt ist. In den Anden soll es beispielsweise Brücken geben, die von den Bewohnern vor langer Zeit erbaut wurden, und deren Statik sich nicht genau berechnen lässt. So jedenfalls berichtete Heinrich Böll vor Jahren in seiner Nobelpreisrede.


Und dabei sind Brücken statisch. Die Musik aber ist immer neu, dynamisch. Die Sängerinnen und Sänger, die Musiker, der Dirigent tragen dazu bei. Nicht zuletzt auch die Zuhörer, zahlreich oder nicht, mit ihren eingeübten Hörgewohnheiten und Vorlieben, mit mehr oder weniger Möglichkeiten und Bereitschaft sich auf neue Hörerlebnisse einzulassen.


Wir haben in diesem Jahr das Glück mit und in den neuen Opernhäusern in Erl und Linz selbst Vergleiche anzustellen und können uns darauf freuen.


März 2013

Das war zu erwarten, dass es im Wagner-Jahr 2013 eine Flut unterschiedlichster Schriften geben würde. Alle Klischees werden wieder bedient, und einige Autoren schieben schnell noch etwas nach, um auch mit dabei zu sein. Natürlich gibt es viele seriöse und reflektierte, lesenswerte  Abhandlungen, aber zweimal hinschauen lohnt sich immer. 


Die Diskrepanz zwischen narrativer Sinnbildung und wissenschaftlicher Auseinandersetzung ist wohl gerade in der Kunst, und mit Sicherheit bei Richard Wagner kaum zu schließen. Da ist dann schnell auch die Gegenwart der Vergangenheit deutlich und auch die Vergangenheit der Gegenwart. Schnell kann man „... der Gefahr moralischer Selbsterhöhung in der rückwirkenden Begegnung mit dem >absolut Bösen<“ erliegen (Frederic Morton). 


Letzteres ist freilich auch  zu bedenken, wenn der Verdacht der Geschichtsklitterung aufkommt.


Unbenommen, aus heutiger Sicht ist manches, „was war“, anders zu sehen und zu deuten. Aber eben nicht alles. Dass Wagner von den Nazis benutzt wurde, ist nicht zu bestreiten. Dass das kein Kunststück war, ist es aber ebenso wenig. Seine Schriften muss man nur lesen. So mutet es schon überflüssig bis peinlich an, wenn der Versuch unternommen wird, den extremen Antisemitismus Wagners – und anderer Mitglieder der Familie – relativieren und klein schreiben zu wollen. Richard und Cosima Wagner waren nicht Mitläufer des weit verbreiteten Antisemitismus im 19. Jahrhundert, sondern Autoren und aktive Befürworter. In dieser Hinsicht ist kein Freispruch möglich. Erst wer das nicht verschweigt, kann sich glaubwürdig der Musik dieses Genies zuwenden. Heldenkult war gestern – hoffentlich.


Februar 2013

Lebte Wagner heute, wäre er auch persönlich ein Medienstar, und sein turbulentes Leben würde täglich neu vor uns ausgebreitet. Natürlich nicht nur über die üblichen Medien. Sein eigener Blog wäre sicherlich auch dabei. Vielleicht sollten wir froh sein, dass das nicht so ist. So können wir ihn doch ein wenig distanzierter bzw. differenzierter bewundern.


Einen genialen Komponisten und furchtbaren Menschen hat ihn zum Jahresauftakt DIE ZEIT genannt. Mein lieber Schwan: Die Biographien, die es bereits gibt, seine eigenen Schriften, die Jubelstimmen und die Äußerungen derjenigen, die ihn und sein Werk ablehnen, werden in diesem Jubiläumsjahr noch gewaltigerer anschwellen. Hoffentlich auch manchmal differenzierter. Wem dies alles zu viel ist, dem sei eine Kurzcharakteristik von Wolfgang Goertz (DIE ZEIT, 3. Januar 2013, Nr. 2, S. 39) ins Musiktagebuch geschrieben: Wagner war in allem schnell und effektiv, im Schreiben, im Betteln, im Intrigieren? und im Liebeswerben. Fehlt noch: und in seinem Antisemitismus. Wer ihn da rein waschen will, wird sich rasch des Verdachts der Geschichtsklitterung ausgesetzt sehen. Was für eine Vorlage für ein Libretto oder wohl besser: für ein Gesamtkunstwerk.


Wie auch immer dem sei, welche Interpretationen und welche Verbindungen zwischen Leben und Werk noch aufgezeigt werden mögen, eine Gewissheit bleibt: seit Wagner hören wir Musik anders.


Januar 2013

„ In Bayreuth ist man nur als Masse ehrlich, als Einzelner lügt man, belügt man sich. Man lässt sich selbst zu Hause, wenn man nach Bayreuth geht, man verzichtet auf das Recht der eignen Zunge und Wahl, auf seinen Geschmack, selbst auf seine Tapferkeit, wie man sie zwischen den eigenen vier Wänden gegen Gott und die Welt hat und übt. In das Theater bringt niemand die feinen Sitten seiner Kunst mit, am wenigsten der Künstler, der für das Theater arbeitet – es fehlt die Einsamkeit, alles Vollkommene verträgt keine Zeugen ... Im Theater wird man Volk, Herde, Weib, Pharisäer, Stimmvieh, Patronatsherr, Idiot – Wagnerianer: da unterliegt auch noch das persönlichste Gewissen dem nivellierenden Zauber der großen Zahl, da regiert der Nachbar, da wird man Nachbar ...“  (Friedrich Nietzsche)


Das nehmen nicht alle so wahr, aber dadurch wird es nicht unwahr. Es ist einen Gedanken wert, unsere Stipendiaten aber auch andere Besucher aus dem Verband, unabhängig von diesem Text einmal um ein paar Zeilen ihrer Bayreuth-Erfahrung zu bitten.



Jahresabschluss 2012

Bei Christian Thielemann und anderen Dirigenten können wir nachlesen, dass Opern, nicht zuletzt Wagner-Opern unterschiedlich lang dauern können, jenachdem welches Tempo der Dirigent vorgibt. Das geht eben schneller oder langsamer, aber es ist immer die ganze Oper. Dass der Ring des Nibelungen in 24 Stunden gespielt – und sogar von vielen gehört – werden kann, ließ sich in Erl bereits erleben.


Unter der Überschrift „Wagner als Extremsport“ berichtet Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung am 29. November 2012 von einer RING-Inszenierung im Teatro Colón in  Buenos Aires – der Ring im  Zeitraffer: „Die Fassung von Cord Garden zielte darauf, die zahlreichen Redundanzen in der Tetralogie zu eliminieren. Oft erzählen die Figuren im ‚Ring‘, was der Zuschauer schon weiß, damit sich jeder Teil eigenständig aufführen lässt. Also strich Garben Erda, die Nornen und Waltraude, befand auch Donner und Loge als vernachlässigbar und verzichtete auf einige Szenen ganz. Katharina Wagner wollte sogar noch weiter gehen, mit dem Ersten Akt der ‚Walküre‘ beginnen und anstelle von Wotans Monolog im zweiten Akt, in welchem dieser die Geschichte des ‚Rheingold‘ erzählt, eben jenes implantieren.“ Ob das Wieland Wagner auch so gemeint hat, als er in seinem Aufsatz „Denkmalschutz für Wagner?“ schrieb, dass die gesamte Darstellung und Interpretation dem Lebensgefühl des 20. Jahrhunderts anzupassen sei? Die werktreue Erfüllung der Wagnerschen Bild- und Regievorschriften, aber auch die gesamte musikalische Interpretation (Tempi, Agogik, Dynamik) „... ist, wenn sie überhaupt jemals theoretisch denkbar gewesen wäre, nicht mehr Kriterium einer heutigen Wagner-Aufführung. Anstelle eines in 100 Jahren steril gewordenen Bild- und Bewegungsschemas kann bei dem Versuch, Wagners archetypischem Musiktheater auf der Bühne unserer Zeit Gestalt zu geben, nur die nachschöpferische geistige Leistung treten ...“.  Mir scheint das zu sehr entweder-oder. Das Eine tun ohne das Andere zu lassen. Das Anregende der Differenz nutzen und nicht fürchten!


In Buenos Aires nahm der Dirigent Roberto Paternostro einige wesentliche  Streichungen zurück, und auch das ‚Rheingold‘ blieb. Dass Resümee von Egbert Tholl: „Was bleibt? Insgesamt sechs Stunden und 16 Minuten Musik und die Erkenntnis, dass man nach einer der längsten Wagner-Aufführungen, die es je gab, zerschlagener ist als nach jedem einzelnen Teil des ‚Rings‘.“ Vielleicht ist nur die Realisierung des Gedankens „Kein Denkmalschutz für Wagner“ nicht gelungen. Denk mal.


Dezember 2012

In der Hektik dieser Wochen nicht auch noch große „Erkenntnisse“, aber vielleicht die eine oder andere Anregung zum Schenken. Das Wagner-Jahr und das Verdi-Jahr werden uns mit einer Flut von Büchern überfallen. Einige Autoren sind schneller gewesen oder schon einige Zeit am Markt. Hier eine kleine Bibliotheksergänzung:

Nike Wagner: Wagner Theater. Frankfurt am Main 1999: suhrkamp taschenbuch Nr. 3079 – Eine unnachahmliche Verbindung von Werkanalyse und Familiengeschichte. Glänzend geschrieben!

Nike Wagner (Hrsg.): Über Wagner. Von Musikern, Dichtern und Liebhabern. Eine Anthologie. Stuttgart 1995: Reclam. – „Dies erlaubt beides: Wagner zu genießen und Abstand zu halten, sein Rauschgift stets mit moralischem Gegengift ... zu homöopathisieren“ (Nike Wagner im Vorwort)

Eva Rieger: Friedelind Wagner. Die rebellische Enkelin Richard Wagners. München Zürich 2012: piper – „ Ich mag der Familie als Verräterin erscheinen, aber vor mir selbst will ich es nicht sein, auch nicht gegenüber der Welt“ (Friedelinde Wagner an Arturo Toscanini, 1940) Die faszinierende Biographie einer Beschädigung.

Christian Thielemann: Mein Leben mit Wagner. München 2012: C. H. Beck. Wir sehen den Dirigenten immer, aber hier können wir lesen, warum er so dirigiert wie er dirigiert. Thielemann nennt sich übrigens lieber Kapellmeister.


November 2012

Warum feiern wir eigentlich Geburtstag? Nun, wir, das ist in diesem Fall der Richard Wagner Verband Innsbruck-Bozen, unser Verband, wurde vor zwanzig Jahren gegründet. Wir freuen uns, dass es uns immer noch gibt, dass wir gewachsen sind und viele schöne Stunden miteinander und mit der Musik verbracht haben.


Das ist Grund und Anlass zugleich für einige kleine Anmerkungen. Natürlich sind wir nicht mehr der Verband des Gründungsjahres. So danken wir unseren Gründungsvätern und Müttern. Wir erinnern uns dankbar an sie  und alle weiteren Mitgliedern, die heute nicht mehr bei uns sind. Sie haben das Fundament gelegt. Wir schauen auch ein wenig stolz auf die Leistungen der letzen Jahre und klopfen uns gegenseitig auf die Schultern. Und schließlich denken wir an die Zukunft. Wir kennen sie nicht. Da wir sie aber wollen, erscheint es zweckmäßig auch die Erzählungen über unsere Vergangenheit zu bedenken, denn das Vertrackte des Denkens über die Zukunft ist, dass wir immer in der Gefahr sind, Handlungsabsichten und Handlungserfolge „einzuebnen“ und dabei die Chance der Fantasie auslassen. Wir erzählen uns vielleicht (manchmal) zu schön und wollen diese schöne Erfahrung verlängern.


Zugleich werden wir erleben, dass auch in der Zukunft die Zeiterfahrung voller Irritationen sein wird. Neue Inszenierungen werden entstehen, neue Szenarien, begrüßt oder beschimpft. So wollen wir uns freuen, wenn die Universen unserer musikalischen Begierde lebendig pulsieren und uns erwartungsvoll dafür öffnen. Freuen wir uns auf neue Einblicke und auf die Aufregung, die wir dabei hoffentlich weiter spüren werden.


September 2012

Der Festspielsommer hat hoffentlich auch für Sie fest und festlich gespielt. Wie immer natürlich mit Anregungen, Kritik und gelegentlichen Enttäuschungen. Aber wir sollten nicht kleinlich sein bei der Beurteilung des Regietheaters, auch wenn es gelegentlich eindeutig zu weit zu gehen scheint.


Jedes Theaterstück, jede Komposition, jede Oper sind ausdeutbar, frag-würdig im besten Sinne. Dass sie manchmal von der Regie eher als Metaphern verstanden werden, irritiert nicht selten, ist aber auch eine Dienstbarkeit: Regie versucht – und hier lehne ich mich an die Metaphorologie von Hans Blumenberg an –  „... an die Substruktur des Denkens heranzukommen, an den Untergrund, die Nährlösung der systematischen Kristallisation, aber sie will auch fassbar machen, mit welchem >Mut< sich der Geist in seinen Bildern selbst voraus ist und wie sich im Mut zur Vermutung seine Geschichte entwirft.“ Auch das ist ausdeutbar.



August 2012

Dank der Live-Übertragung im Kino und im Fernsehen konnten alle, die das wollten, am 11. August 2012 hören wie Wagner bzw. PARSIFAL in Bayreuth klingt. Leider mussten wir auch sehen, dass der Regisseur Stefan Herheim uns als Inszenierung zumutete. Aber man konnte ja die Augen schließen. Herheim mag Fantasie haben, vielleicht sogar überschüssige. Warum er jedoch glaubt, dass PARSIFAL eine total chaotische Oper ist, der man jegliche Art von privatem Pseudo-Geschichtsunterricht aufpfropfen kann und von deren Original man sich als Regisseur bedenkenlos lösen kann, bleibt sein Geheimnis. Zum Vergleich mit anderen PARSIFAL-Inszenierungen vielleicht ein Pflichtbesuch. Die Oper freilich lässt sich andernorts besser erleben.



Juli 2012

Dass Richard Wagner ein extremer Antisemit war, ist bekannt und muss hingenommen werden. Dennoch ist es Jonathan Livny inzwischen gelungen, in Israel einen Richard-Wagner-Verband zu gründen. Aus diesem Anlass sollte in der Universität Tel Aviv ein Wagner-Konzert stattfinden. Als die Verbände der Holocaust-Überlebenden dagegen heftigst protestierten, hat der Präsident der Universität den Mietvertrag gekündigt, so dass das Konzert abgesagt werden musste. Hilton hat ebenfalls keinen Saal zur Verfügung gestellt. Daniel Barenboim sagt dazu im Spiegel-Gespräch Heft 25/2012, S. 110ff.: „Wir brauchen einen Psychiater“, auch wenn er versteht, „... was manche Menschen an Nazi-Assoziationen haben, wenn sie etwa ‚Lohengrin‘ hören.“ Er spielt Wagner mit seinem West-Eastern Divan Orchestra, in dem Juden, Muslime und Christen aus dem nahen Osten musizieren und hat das auch in Israel getan, denn: „Wagner hat alle Ausdrucksmöglichkeiten, die einem Komponisten zur Verfügung stehen – Harmonie, Dynamik, Orchestrierung – bis zum Äußersten ausgeschöpft.“

ANFÜHRUNGSZEICHEN des Präsidenten (Archiv)